S T E V I A Süßstoff aus der Natur
Es ist süßer als Zucker, es wird natürlich hergestellt aber der EU-Kommission schmeckt es nicht so recht. Stevia passt nicht in die Schubladen des Lebensmittelrechts und unterliegt deshalb neuerdings Marktbeschränkungen. Wer es anbieten will, muss es umdefinieren, zum Beispiel zum Tierfutter.
Wer Kuchen, Pudding oder Tee vollwertig süßen wollte, konnte Kalorien bisher nicht vermeiden. Ob Honig, Ahornsirup oder Dicksaft, die Süße kam vom natürlichen Zuckergehalt der Rohstoffe: Diese Kohlenhydrate liefern dem Körper Energie - oder machen dick, wenn die Energie nicht verbraucht wird. Synthetisch hergestellte Süßstoffe wie Xylit, Sorbit oder Aspartam sind für Vollwertköstler aber keine Alternative. In den letzten Jahren tauchte auf dem alternativen Markt eine Pflanze auf, die auf natürlichem Weg ohne Kalorien und ohne Karies zu erzeugen, süßen konnte - Stevia (siehe Kasten). Angeboten wurden die Blätter aus Südamerika als Tee, als Pulver oder in wässriger Lösung. Gerade begann die süße Pflanze mit Hilfe einiger Bücher etwas bekannter zu werden, da kam das Aus.
Mit vollem Namen heißt sie Stevia rebaudiana Bertoni und stammt aus den Wäldern Paraguays. Dort süßen die Guarani-Indianer seit Hunderten von Jahren ihren Mate-Tee mit den lanzenförmigen und fünf Zentimeter langen Blättern der Pflanze aus der Familie der Astern. Entdeckt und beschrieben hat sie der italienische Wissenschaftler Bertoni Ende des 19. Jahrhunderts. Die getrockneten, grünbraunen Stevia-Blätter und das daraus gewonnene Pulver sind etwa 15 mal süßer als Zucker, enthalten keine Kalorien, dafür zahlreiche Spurenelemente. Sie können als Tee aufgegossen oder als Gewürz zum Süßen eingesetzt werden. Die Süße kommt von der Stoffgruppe der Stevioside, deren Gehalt in den Blättern etwa 10 Prozent ausmacht. Sie lassen sich extrahieren. So entsteht ein weißes Pulver, das etwa 250 mal süßer ist als Zucker. In Japan stellen Stevioside, die dort 1970 auf den Markt kamen, bereits die Hälfte aller Süßstoffe. Eingesetzt wird der natürliche Zuckerersatz auch in mehreren europäischen Ländern und in den USA. Dort war er einige Jahre verboten, weil einzelne, bisher aber nicht reproduzierte Studien, eine fruchtbarkeitsschädigende und Krebs erregende Wirkungen behaupteten. Inzwischen ist Stevia als diätisches Lebensmittel wieder zugelassen. In Deutschland sind die Blätter bislang als Tee in Naturkostläden erhältlich. In diesem Jahr sollten die ersten Produkte in Bio-Qualität auf den Markt kommen.
"Stevia rebaudania Bertoni: Pflanzen und getrocknete Blätter sind als neuartige Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten in der Gemeinschaft nicht zugelassen", hat die EU-Kommission am 22. Februar 2000 entschieden. Vorausgegangen war dem der Antrag eines belgischen Labors, Stevia nach der Novel Food Verordnung der EU zuzulassen. Üblicherweise gilt dieses Regelwerk für Essen aus dem Genlabor oder für Designer Food und verlangt aus Gründen des Verbraucherschutzes zahlreiche Tests und Untersuchungen. Weil diese bei Stevia nicht mit vorgelegt wurden, lehnte die Kommission den Antrag ab. Völlig übersehen haben die Brüsseler Beamten, dass die Pflanze in Europa seit etwa 15 Jahren angebaut und verkauft wird, von einem neuartigen Lebensmittel also keine Rede sein kann. Doch auch im "grün" geführten Bundesgesundheitsministerium spielt dieses Argument keine Rolle. "Stevia ist nicht verkehrsfähig", sagt Pressesprecherin Antje Seidel-Schulze.
Bisher hatten sich die für den Vollzug des Lebensmittelrechts zuständigen Behörden kaum um die süßen Blätter gekümmert. Sie konnten immerhin als Tee vertrieben werden, denn ein Tee braucht, im Gegensatz zu einer als Süßstoff deklarierten Zutat, keine lebensmittelrechtliche Zulassung. Doch mit der Entscheidung aus Brüssel steht die Pflanze auf dem Index, weil sie plötzlich als zulassungspflichtiges neuartiges Lebensmittel gilt. Prompt wurde einigen Großhändlern der Vertrieb der Blätter untersagt. Große Hersteller haben daraufhin von sich aus Stevia-Tee aus dem Angebot genommen. Ulrike Sachse von der Grünen Liga Berlin rechnet damit, dass man Stevia-Produkte in den nächsten Jahren trotzdem noch bekommen kann. Manche Hersteller werden sie umdeklarieren und auf die alte Bezeichnung "Süßkraut" zurückgreifen. Im Internet bieten Versender die Blätter bereits als Tierfutter an. Bioproduzenten erinnern an die Zeit, als es verboten war, Algen als Lebensmittel zu verkaufen. Damals wurden die jodreichen Meerespflanzen in Naturkostläden als Badezusatz angeboten.
Mit Hilfe solcher Finessen könnte die Zeit überbrückt werden, bis ein neuer und besser fundierter Antrag bei der EU Erfolg hat. Die Kommission selbst will immerhin die dafür notwendigen Forschungsarbeiten fördern. Der Grund: Die Pflanze wird bereits in Spanien als Futter für die Schweinemast angebaut. Bei einer Zulassung als Lebensmittel könnte der Anbau ausgeweitet werden auf Flächen, auf denen derzeit noch Tabak wächst. Dessen Anbau will die EU in Zukunft nicht mehr subventionieren. Stevia könnte den Tabakbauern also den Umstieg versüßen.
Leo Frühschütz in 'Schrot & Korn' 5/2000